Allgemein| 04.12.2020

Die Pandemie in der Pandemie

Die COVID-19-Pandemie füllt 2020 global die Schlagzeilen. Ende des Jahres werden weltweit tragischerweise ca. 1,5 Millionen Menschen an oder mit dieser Erkrankung gestorben sein.

None
von Dr. med. Thomas Köstler

Es gibt aber eine viel bedeutendere Pandemie, die in den letzten Jahrzehnten viel gravierendere Ausmasse angenommen hat: Die Adipositas-Pandemie. Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die mit einer überschiessenden Fettgewebsvermehrung einhergeht. Genetische und soziokulturelle Faktoren (wie falsche Ernährung und Bewegungsmangel), tragen zu dieser Erkrankung in gleichem Masse bei. Laut WHO leiden heute 39 Prozent der Weltbevölkerung an Übergewicht und 13 Prozent an einer Adipositas. Von einer Adipositas spricht man bei einem Body-Mass-Index (BMI) von über 30. Seit 1975 hat sich das Vorkommen (die Prävalenz) der Adipositas weltweit verdreifacht.

Die Sterblichkeit adipöser Menschen ist gegenüber Normalgewichtigen deutlich erhöht. Der Verlust an Lebensjahren liegt bei etwa 10 Jahren. Dafür verantwortlich sind v.a. die Folgeerkrankungen der Adipositas wie die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), Herzkreislauferkrankungen (Bluthochdruck, Herzinfarkt, Hirnschlag) oder Krebsleiden (wie Dickdarm- oder Brustkrebs). Eine amerikanische Studie des «Institute for Health Metrics and Evaluation» (IHME) in Seattle konnte nachweisen, dass jährlich 4 Millionen Menschen an den direkten Folgen der Adipositas sterben.

Ärzte und Intensivmediziner beobachten seit Beginn der COVID-19-Pandemie, dass adipöse Patienten häufiger schwere Krankheitsverläufe aufweisen. Eine neue Studie aus den USA, die im August 2020 in einer der renommiertesten medizinischen Zeitschriften erschienen ist, kann nun diese Beobachtung bestätigen. Die Wissenschaftler und Mediziner untersuchten aus einem grossen Datenregister aus Kalifornien die knapp 7'000 Patienten, welche an COVID-19 erkrankten. Untersucht wurden die Begleit- und Vorerkrankungen sowie das Alter derjenigen Patienten, die starben.

Erwartungsgemäss war das Alter der Patienten der grösste unabhängige Risikofaktor für einen tödlichen Ausgang der Erkrankung. Das Risiko an COVID-19 zu sterben lag bei über 80-Jährigen 43 mal höher als bei unter 40-jährigen Patienten. Andere Erkrankungen, wie zum Beispiel Bluthochdruck, Asthma oder Diabetes, erhöhten das Risiko zu sterben nur vergleichsweise leicht und selbst aktive oder ehemalige Raucher hatten ein nur gering erhöhtes Sterberisiko.

Neben dem Alter war die Adipositas der zweithöchste Risikofaktor für einen tödlichen Ausgang der COVID-19-Erkrankung - unabhängig von den Begleiterkrankungen. Ab einem BMI von 40 erhöhte sich das Sterberisiko knapp um das 3-fache, ab einem BMI von über 45 um mehr als das 4fache.

Bei genauerer Betrachtung der Studienresultate zeigte sich ein sehr interessantes Bild: Bei Adipösen unter 60 Jahren erhöhte sich ab einem BMI von über 40 das Sterberisiko um das 17-fache gegenüber ihren gleichaltrigen Normalgewichtigen. Und: junge adipöse Männer hatten gegenüber gleichaltrigen adipösen Frauen (unter 60 Jahren) ein 5-fach erhöhtes Sterberisiko.

Die Studie stellt fest, dass das Alter der wichtigste Risikofaktor für einen tödlichen COVID-19 Verlauf ist, gefolgt von einer Adipositaserkrankung und Patienten, die eine Organtransplantation hatten. Erst danach folgen die bekannten Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, Asthma und Andere.

Gibt es dafür eine Erklärung?

COVID-19 ist eine systemische Erkrankung. Sie befällt nicht nur die Lunge, sondern alle Organsysteme im Körper. Die Symptome können unter Umständen denen einer Grippe ähneln, die Erkrankung hat aber nichts mit einer Grippe (Influenza) zu tun.

Die Viren schädigen den Körper dadurch sehr stark, dass sie die Körperzellen befallen und sich dort sehr rasch vermehren. Der Körper aber, d. h., unser Immunsystem, reagiert auf diese Eindringlinge, indem er zahlreiche entzündungsfördernde, blutgefässverengende und blutgerinselbildende Hormone ausgeschüttet. Diese Hormone sind wichtig, damit der Körper das Virus eliminieren kann. Wenn diese aber ungebremst hergestellt werden, dann können die Hormone den eigenen Körper zusätzlich schaden. Diese überschiessende ungebremste Immunreaktion ist gerade beim neuartigen Coronavirus deutlich stärker ausgeprägt als bei den allermeisten anderen Viren.

Eine Infektion mit Coronaviren kann das bereits beeinträchtigte Immunsystem bei adipösen Patienten deshalb zu einer unkontrollierten Immunreaktion veranlassen. Darüber hinaus besitzt gerade Fettgewebe sehr viele Andockstellen (AT2 Rezeptoren), welche die Viren benutzen, um Ihren genetischen Code in menschliche und tierische Zellen einzuschleusen und sich dort zu vermehren.

Fettgewebe ist aber nicht gleich Fettgewebe. Wir wissen, dass vor allem das Bauchfett (viszerales Fett) sehr hormonaktiv ist und dabei sehr viele entzündungsfördernde, aber nur eine geringere Menge an entzündungshemmenden Hormonen (Adipokine) produziert. Diese Disbalance führt dazu, dass sich der Körper bei adipösen Patienten in einem chronisch «hochgefahrenen» Entzündungszustand befindet. Dies könnte eine der Erklärungen sein, weshalb auch jüngere Männer mit Adipositas vermehrt von den schweren Verläufen mit tödlichem Ausgang betroffen sind, denn Männer lagern überschüssiges Fett viel eher im Bauch ab als Frauen.

Studien beschreiben immer ein Patientenkollektiv und niemals den Einzelfall. Natürlich gibt es sehr viele übergewichtige und adipöse Menschen, die eine COVID-19-Infektion sehr gut überstehen und ebenso gibt es junge gesunde schlanke sportliche Menschen, die sehr schwer erkranken, denn neben der Adipositas beeinflussen viele andere Faktoren den Schweregrad der Erkrankung.

Um Menschen aber vor einer schweren Infektion besser schützen zu können ist es wichtig zu erkennen, welche Personen mehr gefährdet sind und welche weniger.

Das BAG (Bundesamt für Gesundheit) hat Menschen mit einer Adipositas-Erkrankung als Risikogruppe bezeichnet. Neue Studien deuten darauf hin, dass die Adipositas als solche, unabhängig von den anderen Begleiterkrankungen der Adipositas wie Diabetes oder Bluthochdruck, als Risikoerkrankung für schwere COVID-19-Verläufe zu betrachten ist.

Spätestens dann, wenn eine Herdenimmunität (am schnellsten und schonendsten mit einer wirksamen und sicheren Impfung) gegen das Virus vorhanden ist, wird die COVID-19-Pandemie überwunden sein. Die weltweite Adipositas-Pandemie wird uns aber in den nächsten Jahrzehnten weiter beschäftigen. Wirksame präventive Eindämmungskonzepte und die Suche nach nachhaltigen Therapien der Adipositas werden uns in Zukunft herausfordern.

Ein Artikel von Dr. med. Thomas Köstler, Leiter Adipositaszentrum Limmattal.

Autor
Dr. med. Thomas Köstler
Leiter Adipositaszentrum Limmattal
Leitender Arzt Klinik für Allgemein-, Gefäss- & Viszeralchirurgie

Adipositaszentrum Limmattal
Urdorferstrasse 100
8952 Schlieren

+41 44 733 22 17

Weitere Blogs mit ähnlichen Themen

Kontakt

Adipositaszentrum Limmattal
Spital Limmattal
Urdorferstrasse 100
CH-8952 Schlieren

+41 44 733 22 17

Telefonische Erreichbarkeit
Montag - Freitag von 08.00 - 09.30 Uhr und 13.00 - 14.30 Uhr

Öffnungszeiten
Montag - Freitag von
08.00 - 12.00 Uhr und 13.00 - 17.00 Uhr

* Diese Angaben benötigen wir, um Ihre Anfrage beantworten zu können. Ihre Daten werden nur zu diesem Zweck verarbeitet und nicht an Dritte weitergegeben.

Mit dem Absenden meiner Nachricht erkläre ich, dass ich mit der Speicherung meiner Daten einverstanden bin.

Weitere Informationen über die Möglichkeiten zur Berechtigung, Löschung und Sperrung Ihrer Daten finden Sie in der  Datenschutzerklärung.

Notfall

Im nicht lebensbedrohlichen Notfall wenden Sie sich an das AERZTEFON. Unter der Gratisnummer 0800 33 66 55 bekommen Sie aus dem gesamten Kanton Zürich medizinische Hilfe. Bei akuter Lebensgefahr wählen Sie wie bisher die Notrufnummer 144.

Zum Notfallzentrum Limmattal

Rettungsdienst/Ambulanz

144

Vergiftungsnotfälle

145

Die Dargebotene Hand

143

Ärztefon Kanton Zürich

0800 33 66 55

Medizinisches Beratungstelefon*

0900 733 144

Notfallzentrum Spital Limmattal

+41 44 733 25 32

*kostenpflichtig