Allgemein| 21.12.2023

Man kann Fett nicht wegspritzen

Seit gut 20 Jahren operiert Thomas Köstler am Spital Limmattal übergewichtige Patienten. Er erklärt, weshalb viele vor einer Operation Angst haben und was neue Medikamente bewirken können.

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Interview und Text: Lydia Lippuner
Bilder: Lydia Lippuner/ Andrea Zahler/ zvg

Vor kurzem veröffentlichte der Bund die neuen Zahlen der Gesundheitsbefragung. Sie zeigen, 43 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind übergewichtig oder adipös. Das sind so viele wie noch nie. Sie operieren bereits seit zwanzig Jahren übergewichtige und adipöse Patienten. Wie veränderte sich die Behandlung in den letzten Jahren?

Thomas Köstler: Als ich vor zwanzig Jahren begann, war Adipositas keine Krankheit, sondern ein selbst verschuldeter Zustand und mit sehr vielen Vorurteilen behaftet. Das hat sich gelegt: Das Verständnis für Adipositas hat deutlich zugenommen. Auch wissenschaftlich hat sich viel getan. Die chirurgischen Therapien sind viel ausgeklügelter geworden, und sie sind weniger gefährlich für die Patienten.

Das Adipositaszentrum im Spital Limmattal wurde zu einem sogenannten akkreditierten Zentrum für Menschen mit Übergewicht. In der Schweiz gehört es damit zu den wichtigsten Zentren in diesem Bereich. Laut den Zahlen auf Ihrer Website operieren Sie jährlich gut 300 Patientinnen. Wie finden die Leute den Weg zu Ihnen?

Wir sind nun das zweitgrösste Adipositaszentrum schweizweit. Wir waren technisch immer schon sehr innovativ und haben Kontinuität im Team. Das spricht sich bei Hausärzten herum. So werden manche Patienten zu uns überwiesen, und weitere kommen, weil sie von anderen Patienten von uns hören. Die Leute lassen sich am besten überzeugen, wenn sie jemanden kennen, der bereits eine Operation hinter sich hat.

Was hält die Patienten davon ab, sich operieren zu lassen?

Viele haben Angst davor, was nach einer Operation auf sie zukommt. Sie fragen sich, wie sie nachher wahrgenommen werden. Denn sie wissen, nach der Operation müssen sie aus der Rolle herausschlüpfen, die sie über Jahre angenommen haben.

Das Essen oder eben der Verzicht darauf spielt eine zentrale Rolle in ihrem Leben.

Ja, viele haben Angst davor, dass sie dann nicht mehr so viel essen könnten. Essen hat bei vielen eine kompensatorische Rolle.

Welche Rolle spielt die Genetik bei Adipositas?

Man schätzt, dass etwa 50 Prozent genetisch bedingt ist. Das Essverhalten gleicht sich laut Studien also jenem der eigenen biologischen Eltern an. Manche Leute sind folglich anfälliger auf Adipositas. Sie sind eher darauf angelegt, Energiereserven anzulegen.

Es ist also nicht nur eine Frage der Disziplin, wie viele behaupten.

Wir sind alle in einem Bereich undiszipliniert, sonst wäre das Leben wohl langweilig. Dass es eine reine Willenssache ist, kann ich auf jeden Fall entkräften. Sicher ist auch, dass es beispielsweise Menschen, die bereits als Kind adipös waren, schwieriger haben.

Spüren Sie die Zunahme der adipösen Patienten auch in Ihrem Zentrum?

In den letzten Jahren hat insbesondere die Anzahl extrem übergewichtiger Patienten mit einem Body-Mass-Index (BMI) über 50 zugenommen. Viele Patientinnen und Patienten mit BMI 50 sind auch sozial stigmatisiert. Sie sind nicht mehr unter den Leuten, finden keine Kleider, keinen Job.

Ab welchem BMI empfehlen Sie eine OP?

Das hängt davon ab, welche Lebensumstände und Begleiterkrankungen ein Mensch hat. Wenn jemand einen BMI von 35 oder höher aufweist und zudem an Begleiterkrankungen leidet, die eindeutig auf Adipositas zurückzuführen sind, dann würde ich der Person eine Operation empfehlen. Leuten, die sich nicht operieren lassen wollen, würde ich eine medikamentöse Therapie empfehlen.

Apropos Medikamente: In den letzten Monaten machten vermehrt sogenannte Diätspritzen wie Wegovy und Ozempic von sich reden. Was halten Sie davon?

Jedes Mal, wenn in den vergangenen zwanzig Jahren etwas Neues auf den Markt kam, gab es einen Hype. Die nun angesagten GLP-1-Analoga (Der Wirkstoff in Ozempic, Anm. der Redaktion) kennt man schon seit fünf bis zehn Jahren. Jetzt hat man einfach die Dosierung erhöht und das Medikament unter einem neuen Produktnamen verkauft.

Wie setzen Sie diese Medikamente gegen Übergewicht wirksam ein?

Wenn man eine Adipositas-Therapie machen will, muss man eine lebenslange Therapie machen. Es nützt nichts, dieses Medikament vier Wochen zu spritzen und dann aufzuhören. Man kann Adipositas nicht wegspritzen. Doch die GLP-1-Analoga wirken sich tatsächlich gut auf das Hungergefühl aus. Wir haben aber auch Leute in der Behandlung, die nicht darauf ansprechen.

Wenn man damit beginnt, muss man sich also das ganze Leben spritzen.

Ja, es ist wie bei einem Bluthochdruckmedikament, dieses kann man auch nicht einfach absetzen. Zudem muss man bedenken, dass wir noch keine Langzeitresultate haben. Viele Patienten weisen einen Gewöhnungs- oder einen Jo-Jo-Effekt auf oder fallen in alte Verhaltensmuster zurück. Bei schwerem Übergewicht empfehle ich einen operativen Eingriff.

Magenband, Magenbypass, Schlauchmagen: Welche Operationen führen Sie durch?

Magenbänder machen wir nicht. Vom Magenbypass gibt es verschiedene Versionen, die wir durchführen. Bei den sogenannten Sleeves (Schlauchmagen-Operation, Anm. der Redaktion) verkleinern wir den Magen. Welche Variante man wählt, ist von mehreren Faktoren wie den Begleiterkrankungen oder dem Risikoprofil der Patienten abhängig.

Wie viele Patienten, die sich zu einer Operation durchgerungen haben, können ihr Gewicht auch nach Jahren noch halten?

Es kommt auf den Eingriff an. Bei einem Magenbypass nimmt man 30 bis 35 Prozent ab. Beim Sleeve zirka 26 bis 30 Prozent. Das sind Durchschnittswerte. Je länger man Nachuntersuchungen macht, desto mehr sieht man, dass einige Patienten das Gewicht halten können und andere wieder zunehmen. Beim klassischen Magenbypass haben wir 15 Prozent Therapieversagen.

Was heisst das konkret?

Wir sprechen von einem Therapieversagen, wenn jemand weniger als 50 Prozent vom Übergewicht verloren hat.

Was wäre die Zielgrösse?

Wir achten immer darauf, wo der BMI zu Beginn war. Jemand mit einem BMI von 50 aufwärts sollte auf einen BMI um 35 kommen. Ein BMI von 25 wäre da illusorisch.

Woran liegt es, dass manche auch nach einer Operation wieder zunehmen?

Es gibt einige Risiken. Eines ist, dass man nach gut fünf Jahren wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt und auch der Effekt der Operation ein wenig nachlässt, sodass man wieder mehr essen kann. Zudem lässt die hormonelle Wirkung nach, sodass das Hungergefühl wieder kommt. Bei einem kleineren Teil der Patienten kommt es zu einer Suchtverlagerung von fester zu flüssiger Nahrung. Genauer gesagt zu Alkohol.

Welche Rolle spielt Alkohol generell bei der Gewichtszunahme?

Alkohol ist appetitanregend und fördert das Hungergefühl. In Kombination mit Essen kann er zu Übergewicht führen. Doch Leute, die nur trinken und nicht essen, sind selten übergewichtig.

Viele versuchen sich bei einer Gewichtszunahme als Erstes selbst zu helfen. Was unterscheidet eine seriöse von einer nicht seriösen Therapie?

Das Erste ist, man kann das Fett nicht wegspritzen. Ein solcher Ansatz hat nichts mit Adipositastherapie zu tun. Auf Abnehmpillen, die Ihnen beispielsweise via Social Media angeboten werden, können Sie grundsätzlich verzichten. Diese Angebote sind meines Erachtens selten seriös. Die GLP-1-Analoga können dagegen wirken.

Haben Sie einen ultimativen Diät-Tipp?

Bei Diäten spielt es am Ende keine grosse Rolle, was man macht. Man muss einfach weniger Kalorien zu sich nehmen, als man verbrennt. Wichtig ist, dass man keine Radikal-Diät macht. Diäten sollten langfristig sein und man sollte zusätzlich auch die Kalorienverbrennung einbauen. Das ist das A und O.

Es gibt also trotz vielen Therapiemöglichkeiten keinen schnellen Weg aus der Erkrankung.

Adipositas ist eine chronische Krankheit. Alles, was man macht, muss langfristig angelegt werden. Es gibt keine Abkürzung – auch nicht mit Ozempic.

«Dass es eine reine Willenssache ist, kann ich auf jeden Fall entkräften», sagt Thomas Köstler. Er leitet das Adipositaszentrum im Spital Limmattal. 


Magen-OP verändert ihr Leben

Telma Antunes wog vor vier Jahren über 200 Kilo – bis sie am Spital Limmattal operiert wurde.

Die 36-jährige Regensdorferin kommt mit zügigem Schritt zur Tür herein. Sie trägt eine modische Daunenjacke und rückt mit dem Stuhl nahe an den Tisch. Was unspektakulär tönt, wäre vor vier Jahren noch kaum möglich gewesen. «Es war kein Leben», sagt Telma Antunes beim Treffen im Spital Limmattal. Weder ein Einkauf in einem handelsüblichen Modegeschäft noch ein Spaziergang ohne häufige Verschnaufpausen waren möglich.

Zwischen damals und heute liegt eine Gewichtsabnahme von 100 Kilogramm. 2019 wog Antunes 201 Kilogramm, heute 97. Doch was sich in Zahlen leicht ausdrücken lässt, ist eine lange Leidensgeschichte. Begonnen habe alles vor 19 Jahren. Damals zog Antunes mit ihren Eltern aus Portugal in die Schweiz. Richtig warm geworden sei sie aber nie mit ihrer neuen Heimat. So blieb sie oft zu Hause. Und wenn sie niedergeschlagen gewesen sei, habe sie sich mit Essen getröstet.

So sei ihr Gewicht Kilo um Kilo gestiegen. Die Kommentare der Passanten, der Nachbarn und der Bekannten habe sie dabei bestmöglich ausgeblendet. Die abschätzigen Blicke aber könne man nicht übersehen. «Ich sah in ihren Augen, was sie denken», sagt sie. «Fettsack» habe man sie genannt.

Auch körperlich litt sie unter ihrem Gewicht. Sie konnte kaum mehr gehen, ein Gang aus dem Haus sei der Horror gewesen. Sie verlor fast den Mut, und wenn sie es dann doch aus dem Haus schaffte, musste sie ständig anhalten, um Atem zu holen. Zudem erkrankte sie an Schlaf-Apnoe, einer nächtlichen Atemstörung: «Mein damaliger Freund machte sich Sorgen, weil ich in der Nacht teilweise länger nicht mehr atmete», sagt sie. Nach einer solchen Nacht sei sie am nächsten Morgen jeweils erschöpft und müde aufgewacht.

Die viele Diäten enden im Frust

Antunes kämpfte gegen die ständig steigenden Pfunde. Es gibt wohl kaum eine Diät, die sie nicht kennt. «Protein-Diät», «Intervallfasten», «Shakes», Antunes zählt sie an ihren Fingern ab. Sie habe alles ausprobiert. Ohne Erfolg. «Ich nahm zwei Kilo ab und bald wieder das Doppelte zu», sagt sie. Es sei ein Frust gewesen.

So habe sie immer weiter zugenommen. «Ich wollte nicht zugeben, dass es mir nicht gut geht, dass ich ein Problem habe», sagt sie. Diese Schwäche habe sie sich nicht leisten können. Auch auf besorgte Nachfragen habe sie immer gesagt, dass alles in Ordnung sei. Das tat sie, bis ihr alles zu viel wurde. Antunes erinnert sich noch genau an den Tag im September 2019. Als sie auf die Waage stieg, zeigte diese 201 Kilogramm an. Und als sie das sah, bekam sie eine Panikattacke.

So habe sie dann einen Termin bei einem Spezialisten für Übergewicht abgemacht, Thomas Köstler, Leiter des Adipositaszentrums am Spital Limmattal. Sie habe ihn bereits seit Jahren gekannt, denn ihre Mutter und ihr Vater seien schon wegen Übergewicht von ihm operiert worden. Antunes ging damals zu den Arztterminen ihrer Eltern mit, um zu übersetzen. «In der Theorie kannte ich das ganze Prozedere bereits, doch in der Praxis war es mir noch fern», sagt sie über die Therapie, die ihr bevorstand. Das sollte sich jedoch nach dem Termin beim Chirurgen ändern. «Er sah, dass meine Situation schlimm war – wenige Tage später wurde ich operiert.»

Die Operation habe ihr keine Beschwerden verursacht, sagt sie. «Ich hatte keine Schmerzen, einfach nichts.» Der Effekt der Massnahme habe sich aber sofort bemerkbar gemacht. Bei der Schlauchmagen-Operation hatte Köstler Antunes einen Teil ihres Magens entfernt, sodass nur ein schlauchförmiger Teil davon übrig blieb. Die Folge: Antunes kann seither nur noch kleine Portionen essen. «Von einer ganzen Pizza esse ich nun ein Stück», sagt sie. Und so sank ihr Gewicht rasch. Das merkte Antunes nicht nur an der Kleidergrösse. Diese schrumpfte von 4XL auf nun 0XL. Auch die körperlichen Beschwerden der Schlaf-Apnoe lösten sich in Luft auf.



Sie geht nicht mehr 1000, sondern 12000 Schritte

Der Rest ist schnell erzählt. Nach der Operation habe ihr Leben erst wirklich begonnen, sagt Antunes. «Ich kann das gar nicht vergleichen», sagt sie. Statt wie früher maximal 1000 gehe sie heute täglich bis zu 12000 Schritte. Tage zu Hause wurden zur Seltenheit: «Ich bin nun richtig traurig, wenn ich an einem Tag nicht rausgehen kann», sagt sie. Sie trennte sich von ihrem damaligen Freund und hat nun eine neue Beziehung. Zudem könne sie wieder reisen. Vor wenigen Tagen reiste sie mit ihrem Freund von Portugal zurück in die Schweiz.

«Zum ersten Mal konnte ich den Gürtel nicht nur schliessen, sondern auch anziehen», sagt sie. Es habe sich super angefühlt. Sie habe keine Gürtelverlängerung gebraucht. Anfang dieses Jahres habe sie einen weiteren Eingriff machen lassen. Köstler erstellte einen Magenbypass. Nach dieser Operation habe sie innerhalb von gut einem halben Jahr nochmals 30 Kilogramm abgenommen. Sogar ihre Freunde erkennen sie nun kaum wieder. Und wenn sie Fotos von früher sieht, frage sie sich: Wer ist diese Person auf dem Foto? Und wer ist sie denn heute? Antunes antwortet: «Ich muss mich noch finden.» Sie scrollt durch die Fotos auf ihrem Handy. Sie erzählt von einem Traum: wieder nach Portugal gehen und Fotografin werden.

Dieser Artikel wurde am 18. November 2023 in der Limmattaler Zeitung publiziert.

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